http://www.gs.uni-heidelberg.de/sprache2/altwick2.htm
Einleitung *I. Sprache und Handlung *
1. Die Universalpragmatik als rekonstruktive Wissenschaft *
2. Sprechakttheorie und Universalpragmatik *
3. Klassifizierung der Sprechakte nach den primär erhobenen Geltungsansprüchen *
4. Zusammenfassende Zwischenbetrachtung *
II. Kommunikatives Handeln *
1. Die teleologische Grundstruktur des Handelns *
2. Vier soziologische Handlungsbegriffe *
3. Handlungsrationalität und kommunikatives Handeln *
4. Bedingungen des kommunikativen Handelns: Das Einverständnis
und die Lebenswelt *
III. Diskurs *
1. Eine erste Näherung *
2. Voraussetzungen des Diskurses *
a) Exkurs: Teilnehmervoraussetzungen aus entwicklungspsychologischer Sicht *
b) Die Voraussetzung der sog. idealen Sprechsituation *
3. Exkurs: Die Konsensustheorie der Wahrheit *
4. Zur "Logik des Diskurses" *
IV. Habermas in der Kritik *
Literaturverzeichnis *
Die Diskursethik, wie sie gegenwärtig vor allem von ihren Begründern Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vertreten wird, hat linguistische Wurzeln. Die Diskursethik stellt eine normative Theorie der (neuzeitlichen) Gesellschaft dar, für die die Verwendung von Sprache in intersubjektiver Kommunikation konstitutiv ist. Der Vergewisserung dieses linguistischen Ursprungs und dem daraus folgenden Handlungs- und Diskursmodell ist die vorliegende Arbeit gewidmet.
Einleitungen sind immer schon ein Vorgriff auf das Ganze. So führt auch hier die Analyse des Begriffs "Diskursethik", die an dieser Stelle den eigentlichen Überlegungen vorangestellt wird, an den Anfang und zugleich an das Ende dieser Arbeit.
Offenbar vereint der Begriff "Diskursethik" zwei Bestandteile - der des "Diskurses" verweist auf ein sprachliches Element, der der "Ethik" im weitesten Sinne auf Handlungen. In einer ersten Näherung erscheinen Sprache und Handlung aber als zwei unterschiedliche Verhaltensweisen, die keineswegs zusammengedacht werden müssen. Es sei an dieser Stelle schon darauf hingewiesen, daß die Diskursethik versucht, nachzuweisen, inwiefern es berechtigt ist, von einer strukturellen Gleichheit von Sprache und Handlung zu sprechen. Zunächst verweist der Begriff des Diskurses aber auf Sprachliches. Mit einem Diskurs wird ein Gebrauchsfall von Sprache als Verständigungsmedium bezeichnet, seine Thematisierung fällt daher dem linguistischen Teilbereich der Pragmatik zu.
Offenbar setzt ein Diskurs mehrere Kommunikationspartner voraus, die mit sprachlichen Äußerungen aufeinander Bezug nehmen. Der Diskursbegriff der linguistischen Pragmatik und der von Habermas verwendete stimmen nicht vollständig überein. Nachfolgend wird daher unter dem Terminus "Diskurs" - im habermasschen Sinne einschränkend - nur der argumentative Diskurs verstanden (eine genaue Definition des habermasschen Diskurses soll erst im dritten Teil erfolgen). Habermas berücksichtigt nur explizit versprachlichte Äußerungen, also etwa nicht non-verbale oder körperlich expressive Handlungen.
Aus diesen ersten Bemerkungen folgt bereits, daß der habermassche Diskurs nicht zu verwechseln ist mit der alltagstypischen Form der Kommunikation, dem Dialog. So setzt der Diskurs auch in moralpsychologischer Hinsicht bei seinen Teilnehmern ein hohes Abstraktionsnievau voraus (die Fähigkeit zum sog. moral point of view). Ein kurzer Exkurs im dritten Teil wird dem nachgehen. In sprachpragmatischer Perspektive soll der Diskurs den Abschluß einer Entwicklung zu einer rationaleren Kommunikationsform darstellen. Aus der Sicht des Teilnehmers fordert diese rationalere Kommunikationsform von ihm die Fähigkeit zum sog. kommunikativen Handeln.
Im Folgenden muß nun noch die Bedeutung des Ethischen beim Diskurs geklärt werden, um eine erste "Brücke" zwischen Sprache, Handlung und Diskurs zu schlagen. Das Ziel der Ethik ist es, eine vertretbare Antwort auf die Frage: "Was soll ich tun?" zu finden, wie Kant formuliert. In Absetzung zu soziologischen Handlungstheorien fragt die Ethik daher nicht nur nach der Struktur von Handlungen, sondern auch und vor allem nach dem guten Handeln. Diese Kernfrage der Ethik hat in ihrer mehr als 2000-jährigen Tradition nichts an Aktualität verloren. Auch die Diskursethik versucht, hierauf eine zeitgemäße Antwort zu geben. Sie unterscheidet sich von anderen ethischen Konzeptionen dadurch, daß sie die Bedingungen für gutes Handeln weder in der Struktur des (real-praktischen) Handelns selbst sucht, noch diese im Sinne der Bewußtseinsphilosophie im guten Willen erblickt. Nicht mehr das Handeln als ein Tätigsein umwillen eines vorgestellten Zweckes, sondern ein (sog. praktischer) Diskurs soll die Anforderungen an rationales Handeln einlösen. Man kann sich den praktischen Diskurs gleichsam wie ein vorgezogenes "Gerichtsverfahren" vorstellen, das dem eigentlichen Handeln vorausgeschickt wird, und zwar immer dann, wenn die Rechtfertigungsgründe (der normative Geltungsanspruch) für dieses Handeln strittig sind. So kann Habermas den Diskurs definieren als eine "durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation (...), in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden". Die Behauptung, mit der Diskursethik eine zeitgemäße Ethik anzubieten, besteht dann zurecht, wenn es gelingt, im Diskurs den wünschenswertesten, ethisch anspruchsvollsten Konfliktlösungsmechanismus für kontroverse Geltungsansprüche zu erblicken.
Im ersten Teil der Arbeit (I) geht es um die Untersuchung des sprachlichen Aspekts des kommunikativen Handelns, wie sie die sog. Universalpragmatik vornimmt. Dazu ist unter anderem auf die Methode und Terminologie der Sprechakttheorie Austins und Searles zurückzugreifen.
Im zweiten Teil (II) geht es um den Handlungsaspekt im kommunikativen Handeln. Dabei muß zunächst geklärt werden, was unter einer Handlung verstanden wird. Von diesem allgemeinen Verständnis ausgehend, sollen dann vier soziologische Handlungsbegriffe vom kommunikativen Handeln unterschieden werden.
Im dritten und letzten Teil der Arbeit (III) geht es um den habermasschen Diskurs, seine Definition, seine Voraussetzungen, einen kurzen Exkurs in die Konsensustheorie der Wahrheit und die sog. Logik des Diskurses. Diese Arbeit beschäftigt sich nicht mit der Diskurstheorie als einer Art Metatheorie des Diskurses, sondern behandelt exemplarisch den praktischen Diskurs.
zurück1. Die Universalpragmatik als rekonstruktive Wissenschaft
Am Anfang war das (gesprochene) Wort, nicht die Sprache. So könnte man den habermasschen Ausgangspunkt etwas dunkel formulieren. Ihm liegt die Unterscheidung von Sprachsystem (langue) und Sprachgebrauch (parole) zugrunde, wie sie De Saussure eingeführt hat. Anders als De Saussure geht es Habermas jedoch hauptsächlich um die Untersuchung der parole, der Rede. Aber auch Habermas ist nicht am aktualen Zeichengebrauch in irgendeiner Situation interessiert, der Gegenstand der linguistischen Pragmatik ist, oder gar an einer Soziolinguistik. Sein Forschungsprogramm der "Universalpragmatik" grenzt sich inhaltlich von der allgemeinen Pragmatik dadurch ab, daß allein die Strukturen verständigungsorientierten Sprechhandelns (kommunikatives Handeln) und nicht die beliebiger situativer Kontexte relevant sind. Die Frage der Universalpragmatik lautet, was wir eigentlich tun, wenn wir verständigungsorientiert Handeln. Dabei ist vorausgesetzt, daß bisweilen immer schon kommunikativ gehandelt wird.
Vor allem in methodischer Hinsicht unterscheidet sich die Universalpragmatik von empirischen Sprachwissenschaften wie der Soziolinguistik. Während dort wesentlich empirisch vorgegangen wird, zählt Habermas die Universalpragmatik zu den sog. rekonstruktiven Wissenschaften. Was heißt rekonstruktive Wissenschaft in bezug auf sprachliche Äußerungen? Empirisch wahrnehmbar ist das (aktuale) Sprachverhalten einer bestimmten Person oder einer Sprachgemeinschaft. Die Soziolinguistik klassifiziert dieses Sprachverhalten mittels der Erhebung von Sprachdaten (sprachlichen und außersprachlichen Parametern). Die Universalpragmatik ist nun aber weniger am sprachlichen Ist-Zustand interessiert, als vielmehr an der Struktur des gewünschten Soll-Zustands. Das rekonstruktive Verstehen richtet sich nicht auf die Äußerung als eine sprachliche Erscheinung (die Oberflächenstruktur), sondern auf das Regelbewußtsein (Tiefenstruktur), aus dem heraus der kompetente Sprecher eine gültige Äußerung formuliert. Es wird sich erweisen, daß, wer diese Regeln (intuitiv) einhält, verständigungsorientiert handelt.
Nimmt man zum Beispiel den Satz "Alle Juristen lügen", so kann der Inhalt dahingehend verstanden werden, daß, wenn jemand ein Jurist ist, er lügt. Mit diesem Inhaltsverstehen versucht der Interpret, den möglichen semantischen Gehalt des symbolischen Satzes nachzuvollziehen, indem er sich (und sein praktisches Wissen) gleichsam in die Perspektive ihres Urhebers versetzt. Für das Inhaltsverstehen eines Satzes wird eine "objektivierende Einstellung" zu etwas als Teil der objektiven Welt eingenommen.
Behandelt man den obigen Beispielsatz "Alle Juristen lügen" als eine zu einem bestimmten Zeitpunkt getätigte Äußerung, so muß der Interpret eine sog. performative Einstellung zum Gesagten einnehmen, wenn er auch an den Gründen für diesen Ausspruch interessiert ist. Es geht nun nicht mehr nur darum, anzugeben, was der Fall ist (daß nämlich Juristen lügen), sondern der Satz wird zu einer Äußerung, die in eine Kommunikation eingebettet ist und deren Sinn vom Gegenüber verstanden werden soll. Eine sprachliche Handlung ist also dann "kommunikativ" zu nennen, wenn der Sprecher etwas zu jemand anderem sagt, so daß dieser versteht, was und zu welchem Zweck es gesagt wird.
Habermas trennt die Bedingungen für die Gültigkeit eines (grammatischen) Satzes von den Ansprüchen auf Gültigkeit und diese wiederum von ihrer Einlösung. Bedingungen können (objektiv) erfüllt sein oder nicht, Ansprüche können in der Rede implizit erhoben werden oder nicht, ihre Einlösung erfolgt diskursiv oder nicht.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wirklichkeitsbedingungen und der Gültigkeit eines grammatischen Satzes vernachlässigt Habermas (aus Gründen seines Wahrheitsbegriffs, wie unten zu zeigen ist). Der Universalpragmatik geht es daher wesentlich um die der Rede zugrundeliegenden Geltungsansprüche und deren Einlösung. Unter einem Geltungsanspruch versteht Habermas die Bedingungen für die Gültigkeit einer Äußerung. Als Frage formuliert heißt das: Welchen Regeln muß die Rede des Sprechers demgemäß genügen, damit die intersubjektive Anerkennung der Äußerung verlangt werden kann, der Redner einen Anspruch darauf hat? Diese Regeln, die aufzudecken die Universalpragmatik bemüht ist, nennt Habermas auch die "universale Geltungsbasis der Rede". Das Einverständnis eines (beliebigen, kommunikativ kompetenten) Interpreten mit einer Äußerung kann nur dann vom Sprecher erwartet werden, wenn die vier universalen Geltungsansprüche erfüllt sind, nämlich Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit.
Die Verständlichkeit eines Satzes zählt zwar einerseits zu den Geltungsansprüchen, andererseits grenzt Habermas sie davon ab, indem er sie primär zu den Bedingungen der Kommunikation rechnet. Verständlichkeit ist kein Versprechen, daß man gibt und gegebenenfalls einlöst (obwohl natürlich eine Diskussion über die Sprachverwendung möglich wäre). Verständlichkeit muß immer schon gegeben sein, sonst bräche die Kommunikation zusammen. Das macht den Unterschied zu den diskursiv einzulösenden Geltungsansprüchen, Wahrheit und Richtigkeit, aus. Jeder grammatische Satz erfüllt den Anspruch auf Verständlichkeit, nicht notwendig aber auch die anderen Geltungsansprüche. Grammatikalität eines Satzes heißt bei Habermas, daß ein geäußerter Satz für alle Hörer, die das grammatische Regelsystem einer natürlichen Sprache beherrschen, verständlich ist. Der obige Beispielsatz ist evident grammatisch, daher ist er auch verständlich.
Zusätzlich zur Verständlichkeit des Satzes muß eine gelingende Äußerung noch den drei weiteren Geltungsansprüchen genügen: "sie muß für die Beteiligten als wahr gelten, soweit sie etwas in der Welt darstellt, sie muß als wahrhaftig gelten, soweit sie etwas vom Sprecher Gemeintes ausdrückt, und sie muß als richtig gelten, soweit sie auf gesellschaftlich anerkannte Erwartungen trifft." Wie kann der Sprecher diese implizit mit seiner Aussage erhobenen Geltungsansprüche einlösen?
Zunächst zur Wahrhaftigkeit. Dieser universale Geltungsanspruch kann dadurch eingelöst werden, daß der Interpret dem Sprecher glauben schenkt aufgrund kommunikativer Erfahrung. Wie die Verständlichkeit ist auch die Wahrhaftigkeit kein diskursiv einzulösender Geltungsanspruch, da Wahrhaftigkeitsansprüche immer ein Vertrauen des Interpreten in die Glaubwürdigkeit des Sprechers voraussetzen. Habermas nennt dies "Glaubensgewißheit": "Einer Person glauben heißt, daß ich ausschließe, daß sie nicht meinen könnte, was sie sagt". Der Sprecher kann daher den Wahrhaftigkeitsanspruch nur in Handlungszusammenhängen einlösen.
Es bleiben noch die Geltungsansprüche der Wahrheit und der Richtigkeit. Wodurch bestimmt sich, ob der Satz "Alle Juristen lügen" wahr oder falsch ist? Habermas Wahrheitsverständnis kann an dieser Stelle nur kurz angedeutet werden, eine genauere Behandlung wird im dritten Teil erfolgen. Habermas vertritt die sog. Konsensustheorie der Wahrheit, nach der die Zustimmung aller Erkenntnissubjekte das Kriterium der Wahrheit sei. Dies überträgt sich analog auf die Richtigkeit normativer Aussagen. Beide Geltungsansprüche sind diskursiv einzulösen, das heißt, es müssen im Diskurs Begründungen und Argumente für die intersubjektive Anerkennungswürdigkeit der Äußerung vorgebracht werden können. Letztlich entscheidet der "eigentümlich zwanglose Zwang des besseren, weil einleuchtenderen Arguments".
Es ist deutlich geworden, daß von verständigungsorientiertem Sprechhandeln nur die Rede sein kann, wenn alle Geltungsansprüche eingelöst werden können. Daraus ergibt sich, daß der verständigungsbereite Sprecher nicht nur eine (linguistisch analysierbare) Sprachfähigkeit besitzen muß, die es ihm ermöglicht, grammatische Sätze zu konstruieren, sondern auch eine (sprachpragmatisch zu untersuchende) Kommunikationsfähigkeit. Darunter versteht Habermas die Fähigkeit des Sprechers, "einen wohlgeformten Satz in Realitätsbezüge einzubetten". Damit ist folglich nichts anderes gemeint, als die universalen Geltungsansprüche mit seiner Rede zu erheben.
zurück2. Sprechakttheorie und Universalpragmatik
Die bisherigen Ausführungen beschäftigten sich ausschließlich mit dem Sprecher, der eine Äußerung macht. In der kommunikativen Wirklichkeit besteht aber ein Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen mindestens zwei Kommunikationspartnern. Die Universalpragmatik versucht, den Vorgang der Herstellung intersubjektiver Beziehungen mit Hilfe der Sprechakttheorie zu klären. Für ein besseres Verständnis des kommunikativen Handelns ist daher ein Blick auf Habermas Rezeption von Austins und Searles Theorie unerläßlich.
Verständigungsorientiertes Sprechhandeln hieß bisher soviel wie in der Lage zu sein, die in einer sprachlichen Äußerung explizit und implizit erhobenen universalen Geltungsansprüche einzulösen. Wie erklärt nun die Sprechakttheorie das Zustandekommen intersubjektiver Beziehungen beim verständigungsorientierten Handeln?
Die Sprechakttheorie revidiert die vorwissenschaftliche Ansicht, daß "sprechen" und "handeln" zwei miteinander unvereinbare Verhaltensweisen darstellen. Ihrem Begründer Austin geht es darum zu zeigen, "How to do things with words", wie der treffende Titel seiner Schrift heißt. Ausgangspunkt war zunächst die Unterscheidung zwischen konstativen Sätzen, die wahr oder falsch sein können, und performativen Sätzen, die gelingen oder nicht gelingen, und bei denen die Wahrheit keine Rolle spielt. Der performative Status sprachlicher Äußerungen beruht auf der Verwendung spezieller Verben, den sog. performativen Verben wie kündigen, danken, geloben (die in der 1. Person Präsens Indikativ Aktiv stehen müssen). Häufig angeführter Beispielsatz ist der Ausspruch eines Pastors: "Ich taufe Dich (hiermit) ...". Der performative Status kommt darin zum Ausdruck, daß mit dem Aussprechen spezieller Wendungen eine Handlung vollzogen wird. Austin stellte später fest, daß jede Äußerung performativ ist. Selbst ein zunächst konstativer Satz wie "Die Erde ist eine Scheibe" kann unter Beibehaltung des propositionalen Gehalts in eine performative Aussage umformuliert werden: "Ich behaupte (gegen Dich), daß die Erde eine Scheibe ist." Habermas spricht deswegen auch von der "Doppelstruktur der Rede". Danach besitzt jede Äußerung einen Beziehungs- und einen Inhaltsaspekt, anders gesagt einen illokutiven und einen propositionalen Bestandteil. Der propositionale Bestandteil besteht in der kommunizierten Information sprechen ist immer sprechen "über etwas". Die Aussage kann wahr oder falsch sein. Durch den illokutiven Bestandteil eines Sprechakts wird die Interaktionsbeziehung zum Kommunikationspartner zugleich her- und dargestellt. Ein Beispiel: Weil der Befehlscharakter mitkommuniziert ("dargestellt") wird, kann nicht nur der Kommunikationspartner, sondern grundsätzlich jeder objektive Dritte (in performativer Einstellung) eine als Befehl formulierte Äußerung als eine solche erkennen. Der illokutionäre Akt kann glücken oder nicht glücken. Im Beispiel des Befehls wäre sie dann geglückt, wenn der Angesprochene den Sprechakt tatsächlich als Befehl identifiziert.
Durch die illokutive Kraft des Sprechakts wird also eine bestimmte Beziehung zum Kommunikationspartner hergestellt, nämlich die, welche durch den Modus, den Sinn, in dem der Kommunikationspartner den propositionalen Gehalt der Äußerung verstehen soll, festgelegt ist. Indem man etwas sagt, gibt man dem Hörer also implizit zugleich auch eine "Gebrauchsanweisung" des kommunizierten Inhalts mit, "als was" dieser verstanden werden soll. Daher ist es auch möglich, den propositionalen Gehalt "Nicht rauchen" kann illokutiv verschieden zu bedeuten: "Ich bitte Dich, nicht zu rauchen", "Ich befehle Dir, nicht zu rauchen", "Ich empfehle Dir, nicht zu rauchen".
Im Sinne der Doppelstruktur der Rede kann Habermas also zwei Ebenen der Kommunikation ausmachen, die in jeder Äußerung vorhanden sind: einmal die Ebene der Erfahrungen und Sachverhalte (Kommunikation "über etwas"), zum anderen die Ebene der Intersubjektivität (Kommunikation "als etwas"). In der Kommunikation über den Inhalt einer Äußerung nimmt der Sprecher eine objektivierende Einstellung zu den Dingen in der Welt ein, die implizite "Metakommunikation" über den Verwendungssinn des geäußerten Inhalts verlangt eine sog. performative Einstellung vom Sprecher. Das heißt, der Sprecher muß den grammatischen Satz in eine sinnvolle Wirklichkeitsbeziehung setzten können. Auf der Ebene der Metakommunikation können selbst keine Äußerungen gemacht werden. Allerdings kann man die Metaebene eines Sprechaktes selbst zum Inhalt einer nachträglichen, zweiten Äußerung machen: "Die Metakommunikation, die im Sprechakt tn auf der Ebene der Intersubjektivität stattfindet, läßt sich in einem (konstativen) Sprechakt tn+1 auf die Ebene propositionaler Gehalte abbilden."
Die Universalpragmatik, die ja die Bedingungen für die Möglichkeit von verständigungsorientiertem Handeln aufzeigen will, beschäftigt sich mit der Ebene der Intersubjektivität (Metakommunikationsebene). Gestiftet wird der Beziehungszusammenhang durch die illokutive Kraft, wie oben beschrieben wurde. Neben dem propositionalen und dem illokutiven Bestandteil gehören zu jedem Sprechakt noch der Äußerungs- und der perlokutive Akt. Diese beiden sollen nur der Vollständigkeit halber erwähnt sein, für die Sache der Universalpragmatik spielen sie nur eine untergeordnete Rolle. Der Äußerungsakt enthält Laute, Wörter und Sätze enthält. Er kann grammatisch wohlgeformt oder grammatisch nicht wohlgeformt sein. Schließlich enthält jeder natürliche Sprechakt nach Searle auch noch den perlokutiven Akt, nämlich den Versuch, auf das Handeln des anderen einzuwirken. Dieser Versuch kann erfolgreich oder nicht erfolgreich sein.
zurück3. Klassifizierung der Sprechakte nach den primär erhobenen Geltungsansprüchen
Allen Sprechakten ist die propositional/performative Doppelstruktur eigen. Dennoch wird man sogleich zwischen den folgenden Äußerungen unterscheiden bezüglich ihrer Illokution:
(1) Ich behaupte, daß ...
(2) Ich fordere Dich auf, daß ...
(3) Ich wünsche mir, daß ... .
So unterscheidet Habermas drei Typen von Sprechakten: erstens den konstativen, zweitens den regulativen und letztens den repräsentativen Sprechakt. Die Unterscheidung der drei Sprechaktstypen leitet sich aus den verschiedenen Möglichkeiten ab, Sprache in Äußerungen zu verwenden, aus den "Kommunikationsmodi", wie Habermas sagt. Im konstativen Sprechakt (1) wird Sprache kognitiv gebraucht. Der propositionale Gehalt wird in Form einer Aussage explizit dargestellt, während der performative Bestandteil eine untergeordnete Rolle spielt (daher häufig ein primär performativer, nicht explizit performativer Sprachgebrauch bei konstativen Sprechakten). Mit einem konstativen Sprechakt erhebt der Sprecher den Geltungsanspruch der Wahrheit für seine Äußerung. Obwohl Wahrheit, wie oben festgestellt, ein universaler Geltungsanspruch ist und damit mindestens mittelbar allen Äußerungen eines kompetenten Sprechers zugrundeliegt, steht dieser Geltungsanspruch bei konstativen Sprechakten im Vordergrund und verdrängt andere. Mit einem regulativen Sprechakt (2) werden interaktive Beziehungen hergestellt und gleichzeitig die Sprecher-Hörer-Beziehung dargestellt (allerdings implizit, da eine Illokution nicht zugleich wirksam und objektiver Gegenstand einer Äußerung sein kann, s.o.). Im interaktiven Sprachgebrauch nimmt der Sprecher bewußt oder unbewußt einen bestehenden normativen Kontext in Anspruch. Der unterstellte Geltunsganspruch, auf den sich der Sprecher bei regulativen Sprechakten bezieht, ist also die Richtigkeit.
Bei repräsentativen Sprechakten (3) wird die Sprache zum Ausdruck subjektiver Befindlichkeiten verwendet. Habermas nennt dies den "expressiven Sprachgebrauch". Einem Sprecher, der sich expressiv der Sprache bedient, kommt es nicht primär auf die Wahrheit oder die normative Richtigkeit seiner Äußerung an, sondern auf die Authentizität seiner Absichten. Der dritte, universale Geltungsanspruch ist also die mit dem expressiven Kommunikationsmodus verbundene Wahrhaftigkeit.
zurück4. Zusammenfassende Zwischenbetrachtung
Die Aufgabe der Universalpragmatik besteht nach Habermas darin, die Bedingungen der Möglichkeit verständigungsorientierten Handelns (kommunikatives Handeln) zu erforschen. Da immer auch schon verständigungsorientiert gehandelt wird, ist die Methode der Universalpragmatik rekonstruktiv. Es galt somit zu zeigen, daß das intuitive Regelbewußtsein (die Tiefenstruktur), mit dem sprachliche Äußerungen hervorgebracht werden, sich sprachpragmatisch in einer Oberflächenstruktur ausdrückt. Für deren Analyse entlehnt Habermas die Gedanken der Sprechakttheorie Austins und Searles. Ein Sprechakt, wie ihn Habermas deutet, läßt sich mit einem "Vertrag" im juristischen Sinne vergleichen. Der verständigungsorientierte Sprecher macht dem Hörer ein Angebot auf Eingehung einer im Sprechakt dargestellten, vom Sprecher intendierten Beziehung. Nimmt der Hörer das Angebot an, so ist der Sprechakt gelungen. Schon im Vorfeld der "Vertragsanbahnung" ergeben sich formale Verpflichtungen an die Redebeiträge der Sprecher, sofern beide verständigungsorientiert handeln, das heißt auf den "Vertragsschluß" hinarbeiten wollen, um in der juristischen Metapher zu bleiben. Die formalen Verpflichtungen bestehen in der wechselseitigen Anerkennung von Geltungsansprüchen, auf die der Sprechakt jeweils primär Bezug nimmt. Der Sprecher übernimmt in nachprüfbarer Weise "mit einem Wahrheitsanspruch Begründungsverpflichtungen, mit einem Richtigkeitsanspruch Rechtferti-gungsverpflichtungen, mit einem Wahrhaftigkeitsanspruch Bewährungsverpflichtungen".
zurück1. Die teleologische Grundstruktur des Handelns
Es ist gezeigt worden, daß die Bedingungen für kommunikatives Handeln wesentlich sprachpragmatisch zu deuten sind. Dieser Ansatz ist deshalb möglich, weil mit "kommunikativem Handeln" eben zunächst nicht das Handeln selbst, sondern die Voraussetzungen für ein auf Verständigung basierendes Handeln gemeint sind. Nachdem der erste, kommunikative Aspekt geklärt ist, muß der Handlungsaspekt, insbesondere das Zusammengehen beider Begriffsbestandteile in Augenschein genommen werden.
Die Klärung des Handlungsbegriffs fällt klassischerweise in einen soziologisch-philosophischen Grenzbereich, wobei immer mehr Rücksicht auf Erkenntnisse aus Wissenschaften wie Ethologie, Neurophysiologie und Psychologie genommen wird. Die Gewinnung allgemeingültiger Aussagen über gutes und gerechtes Handeln gilt traditionell als Aufgabe der Ethik. Bevor geklärt werden kann, worin gutes Handeln besteht, muß bestimmt werden, was Handlung überhaupt bedeutet. Als formale Elemente einer Handlung werden gewöhnlich der Urheber einer Handlung (nach Kant das Subjekt mit seiner Willensautonomie), der eigentliche Vollzugsakt, die Absicht (Intention), das Ziel und der Gegenstand (das Objekt), an dem die Handlung vollzogen wird, unterschieden. Am Beispielsatz formuliert heißt das: T. Tunichgut (Subjekt) will den H. Habenichts (Objekt) berauben (Ziel und vorgestellter Vollzug), um mit dem erbeuteten Geld seine Schulden beim Bauunternehmer S. Schlampig zu begleichen (Absicht).
Im Anschluß an Arnold Gehlen nennt Habermas zwei Handlungsdefinitionen: Er unterscheidet einen idealistischen Handlungsbegriff, nach dem eine Handlung die Reflexion auf ein umweltveränderndes Tun ist von einem realistischen Handlungsbegriff, nach dem der leibliche Handlungsvollzug im Vordergrund steht und das Bewußtsein die Handlung lediglich mitvollzieht. Für das Verständnis des kommunikativen Handeln ist die erste Handlungsdefinition einschlägig, da sie die Möglichkeit unterstellt, die Handlung ex post zu rekonstruieren und zu legitimieren.
Als Handlung bezeichnet man gewöhnlich das intentionale Verhalten, also das auf eine Entscheidung gründende Tätigwerden umwillen eines Zieles. Auch Habermas anerkennt den teleologischen Basisgehalt jedes Handlungsbegriffs. Die "teleologische Handlungsstruktur [wird] insofern vorausgesetzt, als den Aktoren die Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln und das Interesse an der Ausführung ihrer Handlungspläne zugeschrieben wird". Die teleologische Struktur des Handelns überhaupt gründet in der Tatsache, daß Handeln immer in Sinnzusammenhängen vorkommt. Mit "Sinnzusammenhang" ist die Zweck-Mittel-Relation gemeint, wonach das Mittel, also die betreffende Handlung, geeignet sein muß, einen bestimmten, vorgestellten Zweck zu befördern. Nach dem einfachen, teleologischen Handlungsmodell ist Handlung ein von einem vorgestellten (End-)Zweck angeleitetes Wirken.
Aristoteles, bei dem die teleologische Handlungstheorie ihren Ursprung hat, unterscheidet zwei Tätigkeitsweisen: die praxis, deren "Sinn" im Tun selbst liegt und die poiesis, deren Zweck nur im Handlungserfolg greifbar ist. Als ein Beispiel für eine poietische Tätigkeit läßt sich die eines Schusters anführen. Der Zweck seines Tätigwerdens und Gegenstand der Bewertung ist der fertige Schuh, niemand würde ihn für den Bearbeitungsprozeß loben. Den von Aristoteles eingeführten Unterschied von praxis und poiesis vollzieht auch Habermas, indem er zwischen technisch angeleiteter Arbeit und Interaktion unterscheidet. Im Folgenden interessiert allein die Interaktion. Somit wird Handlung stets als ein sozialwirksames, zielgerichtetes, symbolisches und Tun verstanden. Diese Definition impliziert bereits die Intentionalität des Handelns. Handeln geschieht immer in bezug auf einen anderen Menschen oder eine Institution, hinter der letztlich menschliche Interessen stehen.
zurück2. Vier soziologische Handlungsbegriffe
Habermas unterscheidet vier grundlegende soziologische Handlungsbegriffe: das instrumentelle, das strategische, das normenregulierte und das dramaturgische Handeln. Zu dieser Unterscheidung gelangt Habermas, indem er fragt, aus welcher "Quelle" sich das Handeln erklären läßt. Vereinfachend gesagt handelt es sich um den Ursprung des Handlungsmotivs. Dieses "Woher" nennt Habermas den "Weltbezug". Was ist mit "Weltbezug" des Aktors des Näheren gemeint? Von "Weltbezug" ist zunächst nur hinsichtlich von Äußerungen die Rede. In der bestimmten Beziehung, die eine Äußerung zu ihrem "Referenzobjekt" einnimmt, kommt der Weltbezug zum Ausdruck. Der Aktor bezieht sich in seinen Äußerungen immer auf ein Referenzobjekt, sei dies nun die objektive Welt existierender Sachverhalte, die normative Welt interpersonaler Beziehungen oder die subjektive Welt von Erlebnissen. Ermöglicht wird dies durch die verschiedenen Funktionen, die die Sprache in Äußerungen erfüllen kann. "Weltbezug" besitzen also zunächst nur Äußerungen. Indem man sagt: "Zürich liegt an der Limmat" behauptet man einen Bezug zwischen seiner Äußerung und der objektiven Welt. Dieser Weltbezug wird in der Äußerung explizit herausgestellt. Ihr liegt ein (fehlbares) Wissen zugrunde, das als ein solches mit der Äußerung dargestellt wird. Habermas behauptet nun den für das Verständnis seiner Theorie wesentlichen Zusammenhang von Äußerungen und Handlungen. Handlungen (bestimmter Art, nämlich nur die kommunikativen) können analog zu Äußerungen betrachtet werden. Darauf ist im nächsten Unterabschnitt zum kommunikativen Handeln zurückzukommen. Nachfolgend sollen vier Handlungsbegriffe anhand ihres jeweiligen Weltbezuges unterschieden werden.
Betrachtet man Handlungen allein unter dem teleologischen Aspekt, so muß es, grob gesagt, eine Außenwelt geben, von der sich der Aktor durch Wahrnehmungen ein Bild machen kann (in Form von Meinungen) und an der er sein Handeln ausrichtet, indem er Absichten verfolgt. Der instrumentelle Handlungsbegriff setzt nur eine, nämlich die objektive Welt voraus. Nach der instrumentellen Betrachtung bedarf es zur Formulierung einer Handlungsabsicht lediglich dem einen Komplex der Außenwelt oder objektiven Welt, in der habermasschen Terminologie. Die Außenwelt bildet den Ausgangs- (als Gegenstand von Meinungen) und Endpunkt (als Ort des Erfolgs) einer Handlung.
Für Habermas ist nicht eigentlich die instrumentelle Handlungsbetrachtung, sondern das direkt darauf aufbauende sog. strategische Handeln von Interesse. Instrumentelles Handeln wird zum strategischen, wenn "in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann". Dieses Handlungsmodell liegt oft utilitaristischen Ethiken zugrunde, wenn der Aktor nämlich Mittel und Ziele einer Handlung an der Maximierung von Nutzen(erwartungen) abängig macht. Der Aktor bezieht also das zu erwartende Handeln eines oder mehrerer Dritter, in denen er ebenfalls strategisch handelnde Subjekte erkennt, in seinen eigenen Handlungsplan mit ein. Die strategische Art, Handlungen zu entwerfen, findet man zum Beispiel in (strategischen) Gesellschaftsspielen ("Wähle die Strategie, die im Rahmen der Spielregeln und angesichts der Opponenten den günstigsten Erfolg verspricht"), in militärischen Überlegungen, im Verhalten von Kindern einer bestimmten Altersstufe. Im strategischen Handlungsmodell werden die Entscheidungen des einzelnen Aktors isoliert betrachtet, das heißt, die Entscheidung steht in einem actio/reactio-Verhältnis zur Außenwelt (Ein-Welt-Begriff).
Die Abhängigkeit des Handelns von sozialen Kontexten kann erst mit dem zweiten, von Habermas eingeführten Handlungstyp erklärt werden, dem Begriff des normenregulierten Handelns. Demgemäß wird der einzelne als integraler Teil einer sozialen Gruppe angesehen, die ihr Handeln an einem gemeinsamen normativen "Horizont" (Wertekonsens) ausrichtet. Habermas nennt diesen normativen Horizont die "soziale Welt", die festlegt, "welche Interaktionen zur Gesamtheit berechtigter interpersoneller Beziehungen gehören". Dieser Handlungstyp setzt also das Bestehen von zwei "Welten" voraus, die der objektiven (in der sich der Aktor verhält) und die der sozialen (zu der sich der Aktor mit seiner Entscheidung affirmativ oder negierend verhält).
Alle genannten Handlungstypen, das instrumentelle, das strategische und das normenregulierte, abstrahieren vom Aktor, indem sie seine Entscheidung gleichsam "von außen" erklären. Der motivationale Komplex, der einer Entscheidung und damit einer Handlung zugrundeliegt, ist noch zu erweitern um die "Innenwelt" des Aktors. Der Begriff des sog. dramaturgischen Handelns erklärt Handlungen aus der vom Aktor (mehr oder minder) gesteuerten Preisgabe von subjektiven Erlebnissen. Es handelt sich um eine Selbstinszenierung (Präsentation) des Aktors. Die Äußerungsform für dramaturgisches Handeln sind Erlebnissätze. Auch das dramaturgische Handeln verlangt nach Habermas nur einen Zwei-Welten-Begriff: die Innen- und die Außenwelt. Nach dieser Perspektive gehört etwas entweder zur Außenwelt, der gegenüber der Aktor eine objektivierende Einstellung einnimmt und sich so von ihr abgrenzt, oder zur Innenwelt, die mit einer expressiven Äußerung (selektiv) thematisiert wird.
zurück3. Handlungsrationalität und kommunikatives Handeln
Wie kommt Habermas zum Begriff des kommunikativen Handelns? Die verschiedenen Weltbezüge führten zu der Klassifizierung in strategisches, normenreguliertes und dramaturgisches Handeln. Um nun zum Begriff des kommunikativen Handels zu gelangen, muß man sich vergegenwärtigen, was mit den Weltbezügen ausdrückt ist. Unter "Weltbezug" wird die Relation einer Äußerung zu einem Referenzobjekt verstanden, wie oben bereits gesagt wurde. Es ist unter anderem die Rechtmäßigkeit dieser Relation, die mit dem Begriff "Rationalität" (einer Äußerung) angesprochen wird. Nur wenn eine Äußerung keinerlei Weltbezug aufweist, würde man sagen, sie sei irrational. Der Weltbezug ist etwas rein Faktisches. Zudem enthält jede Äußerung ein normatives Element. Gemeint sind die oben diskutierten Geltungsansprüche. Die Rationalität einer Äußerung hängt also von der Gültigkeit der mit ihr erhobenen Geltungsansprüche ab. Wir nennen eine Äußerung "rational", wenn der im faktischen Weltbezug ausgedrückte normative Geltungsanspruch zu Recht besteht.
Es ist bereits gesagt worden, daß eine Äußerung immer eine Äußerung über "etwas" ist. Dieses "Etwas" nennt Habermas "Wissen". Es gilt zu beachten, daß nicht jede Äußerung eine Wissensäußerung darstellt und daß Habermas somit nur einen begrenzten Ausschnitt von Äußerungen betrachtet. Außer der sich auf Wissen stützenden Äußerungen gibt es Äußerungen des Zweifels, des Meinens und des Glaubens. Der Unterschied zwischen Wissensäußerungen und den letztgenannten besteht darin, daß Wissensäußerungen den Anspruch auf Begründetheit erheben. Wissen ist also immer kritisierbar und überprüfbar. In Äußerungen des Meinens, Zweifels und Glaubens wird entweder auf die Überprüfbarkeit oder auf die Kritisierbarkeit verzichtet. Man kann also die Rationalität von Äußerungen dahingehend präzisieren, daß sie in der Kritisierbarkeit und Überprüfbarkeit besteht.
Oben wurde gesagt, daß sich Handlungen analog zu Äußerungen betrachten lassen. Worin liegt bei Äußerungen und Handlungen das "tertium comparationis"? Die Vergleichbarkeit beruht auf der Anwendung von Wissen. Äußerungen stellen einen expliziten Wissensausdruck, Handlungen einen impliziten Wissensausdruck dar. Dies erläutert Habermas an folgendem Beispiel: "Nehmen wir an, daß die Meinung »p« den identischen Wissensbestand, über den A und B verfügen, repräsentiert. Nun nimmt A (als einer von mehreren Sprechern) an einer Kommunikation teil und stellt die Behauptung »p« auf, während B als (einsamer) Aktor die Mittel wählt, die er aufgrund der Meinung »p« in einer gegebenen Situation für geeignet hält, um einen erwünschten Effekt zu erzielen. A und B verwenden dasselbe Wissen auf verschiedene Weise."
Handeln ist für Habermas zunächst ein Können ("know how"). Dieses "know how" kann grundsätzlich in ein "know that" transformiert werden "know that" ist es dann als Äußerung. Es folgt daraus, daß auch Handlungen das faktische Element des Weltbezugs aufweisen müssen. Indem man handelt, verhält man sich in bestimmter Weise zu objektiven, sozialen oder subjektiven Welt. Aus den jeweiligen Stellungnahmen einer Handlung zu diesen Welten, hatten sich die vier Handlungsbegriffe ergeben.
Mit einer Äußerung werden explizit Geltungsansprüche erhoben, mit einer Handlung lediglich implizit in Form einer nicht-versprachlichten Handlungsregel, nach der man vorgeht. Diese Handlungsregel enthält die Mittelwahl in Richtung auf das vorgestellte Ziel unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände. Die Zielerreichung (bei Habermas der "Effekt") muß zumindest objektiv möglich erscheinen und die gewählten Mittel müssen wirksam und geeignet dafür sein. Diese Zweckrationalität allein genügt aber nicht, das Handeln (vollständig) rational zu nennen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Aktoren im gegenseitigen Einverständnis über die Situationsdeutung handeln, also kommunikativ handeln.
Die Rationalität besteht in Form begründbaren Wissens, im Falle einer Äußerung in den zu Recht erhobenen Geltungsansprüchen, im Falle einer Handlung in der Handlungsregel, die auf allgemein anerkannte Geltungsansprüche zurückgreift. Man sieht, daß Habermas bemüht ist, die Rationalität einer Handlung an die Rationalität von Äußerungen anzuschließen. Der Bereich der Praxis folgt damit keiner eigenständigen Rationalität (wie zum Beispiel im klassischen Handlungsmodell des Aristoteles). Dieser "Platzverweis" der Praxisrationalität ist nicht unwidersprochen geblieben. Die Behauptung, rationales Handeln sei analog zu rationalen Äußerungen zu bestimmen, macht allerdings den Kern der habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns aus.
Kommunikatives Handeln, das die Möglichkeit des verständigungsorientierten Sprechens voraussetzt, bedient sich aller drei Funktionen der Sprache, nämlich die der Darstellung von Sachverhalten, die der Herstellung interpersonaler Beziehungen und die des Ausdrucks subjektiver Erlebnisse. Sie bleiben beim Handeln jedoch implizit und gehen in die Handlungsregel ein. In Habermas Worten: "Mit dem Begriff des kommunikativen Handelns kommt die weitere Voraussetzung eines sprachlichen Mediums zum Zuge, in dem sich die Weltbezüge des Aktors als solche spiegeln". Die Logik des Handelns ist eigentlich eine Logik der Verwendung von Sprache. In wittgensteinscher Manier kann Habermas deshalb sagen, die Grenzen der Sprache seien die Grenzen des Handelns.
zurück4. Bedingungen des kommunikativen Handelns: Das Einverständnis und die Lebenswelt
Wer rational handeln will, der muß kommunikativ handeln. Eine bloße Zweckrationalität ist nicht ausreichend, gefordert ist vielmehr Verständigungsrationalität. Diese Form der Rationalität von Handlungen vergrößert "den Spielraum für die zwanglose Koordinierung von Handlungen und eine konsensuelle Beilegung von Handlungskonflikten".
Kommunikatives Handeln setzt ein Einverständnis beider Parteien voraus. Das Einverständnis bezieht sich auf die mit einer Äußerung verbundenen Geltungsansprüche. Es muß sich um eine Einverständnis handeln, das frei von Willensmängeln (täuschungsfrei, ohne List, nicht sanktions- oder gratifikationsbewehrt) ist. Ist das Einverständnis zumindest eines Kommunikationspartners nicht in diesem Sinne rational zustandegekommen, handelt der andere Aktor strategisch, also nicht kommunikativ. Es kommt dem Aktor dann nicht auf ein Handeln aufgrund eines (gegenseitigen) Einverständnisses, sondern auf (einseitige) Einflußnahme, auf Manipulation an.
Das Einverständnis kann aber sehr wohl schon vorhanden sein, was ein vorheriges sprachliches Aushandeln erübrigen würde. Habermas spricht daher von kommunikativem Handeln, "wenn sich die Aktoren darauf einlassen, ihre Handlungspläne intern aufeinander abzustimmen und ihre jeweiligen Ziele nur unter der Bedingung eines sei es bestehenden oder auszuhandelnden Einverständnisses über Situation und erwartete Konsequenzen zu verfolgen".
Die Anbindung einer Handlung an die andere ist möglich durch Wirkung der illokutiven Kraft, wie sie oben dargestellt wurde. Auf diese führt Habermas die Herstellung interkommunikativer Beziehungen zurück. Es ist ebenfalls schon gesagt worden, daß ein illokutionärer Akt, beispielsweise eine Bitte, glücken oder nicht glücken kann. Der illokutionäre Akt ist dann erfolgreich, wenn der andere den Modus der Äußerung richtig identifiziert, also die Äußerung als Bitte erkennt. In diesem Falle wird die Situation von beiden Kommunikationspartnern übereinstimmend gedeutet. Bekundet der andere dies entweder durch eine Ja-/Nein-Stellungnahme zum Sprechaktangebot oder akzeptiert er stillschweigend das Sprechaktangebot, indem er sein Handeln an den Geltungsansprüchen des gegenerischen Sprechakts orientiert, besteht ein Einverständnis zwischen den Aktoren. Sobald die Kommunikationspartner ein Einverständnis erzielt habe, entstehen sog. interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten. So ist bei einem Befehl der Adressat dann zum Handeln verpflichtet, bei einem Versprechen der Sprecher selbst, im Falle von Kaufverträgen beide Parteien.
Soll kommunikatives Handeln im Alltag überhaupt möglich sein, ist es notwendig, daß der Aktor auf bestehende Einverständnisse zurückgreifen kann, daß Einverständnisse nicht immer erst (sprachlich) ausgehandelt werden müssen. Die meisten Handlungen stützen sich auf Selbstverständlichkeiten in einer gedeuteten Welt wie der unseren. So sagt Habermas, daß es in der kommunikativen Alltagspraxis keine schlechthin unbekannte Situationen gebe. Diese Hintergrundgewißheit nennt Habermas "Lebenswelt". Sie ist die Bedingung der Möglichkeit für Verständigung überhaupt. Denn wie sollten sich kommunikativ Handelnde jemals einigen können, wenn sie nicht einen grundsätzlich gemeinsamen Fluchtpunkt in der Lebenswelt hätten? Die Lebenswelt bildet den Kontext und die Quelle für Verständigungsprozesse. Die Lebenswelt ist präsent in der Sprache, sie dient als kultureller Wissensspeicher.
Es soll damit klar sein, daß kommunikatives Handeln nur vor dem Hintergrund einer geteilten "Lebenswelt" gedacht werden kann und mit ihm kein neuer Handlungstypus eingeführt wird, der inhaltlich von anderer Art ist als die vier genannten soziologischen Handlungsbegriffe, denn dafür müßte er einen anderen Weltbezug aufweisen. Beim kommunikativen Handeln werden diese nur auf eine Weise neu integriert.
zurückWas läßt sich aus den bisherigen Überlegungen für eine vorläufige Bestimmung des Diskurses fruchtbar machen? Zunächst muß wohl im Diskurs das reale Handeln suspendiert werden, einmal im Sinne konkreter Handlungen wie fischen, Fahrrad fahren, einkaufen etc., aber auch hinsichtlich von Sprechhandlungen wie befehlen, versprechen, erzählen etc. Habermas nennt dies "Virtualisierung der Handlungszwänge" Dies folgt aus der Überlegung, daß Handlungen nicht zugleich ausgeführt und Gegenstand einer kritischen Überprüfung sein können. Im Diskurs wird also nicht im obigen Sinne gehandelt, sondern in einer (noch näher zu bestimmenden Weise) verhandelt.
Damit ist auch gesagt, daß Diskurse immer sprachlich verfaßt sein müssen, das heißt, sie bestehen notwendig aus Sprechhandlungen als Grundeinheiten (nicht etwa non-verbalen Zeichen). Die Anforderungen an die Rationalität von Sprechhandlungen sind im ersten Abschnitt der Arbeit vorgetragen worden und also Diskursen zugrundezulegen. Allerdings handelt es sich bei den Sprechhandlungen des Diskurses um Sprechhandlungen besonderer Art, nämlich allein um argumentative Äußerungen. Dies ist ein Hauptunterschied zwischen dem Diskurs und anderen sprachlich verfaßten Institutionen sozialer Interaktion (beispielsweise dem actio-/reactio-Verhältnis in einer kirchlichen Liturgie).
Was wird im Diskurs thematisiert, was ist der Gegenstand der Argumentation? Es ist gesagt worden, daß der kommunikative handelnde Aktor sein Handeln an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen orientiert. Er muß sich auf ein bestehendes Einverständnis berufen können. Ist dies nicht vorhanden oder wird es bestritten, so stehen ihm zwei Möglichkeiten offen: Er kann strategisch weiterhandeln oder den erhobenen Geltungsanspruch einlösen. Die strittigen universalen Geltungsansprüche (Wahrheit, Richtigkeit und Verständlichkeit) sind der Gegenstand des jeweiligen Diskurses und werden mit dem abschließenden Konsens eingelöst. Es ist also beispielsweise nicht über alle (schon bestehenden) Handlungsnormen ein vorheriger Diskurs zu führen, sondern stets nur über diejenigen, deren Geltungsanspruch bestritten wird.
Wodurch unterscheiden sich kommunikatives Handeln und Diskurs? Habermas läßt diesen Unterschied deutlich hervortreten, indem er sagt: "Wir haben bisher zwei Formen der Kommunikation (oder der Rede) unterschieden: kommunikatives Handeln (Interaktion) auf der einen Seite, Diskurs auf der anderen Seite. Dort wird die Geltung von Äußerungen naiv vorausgesetzt, um Informationen (handlungsbezogene Erfahrungen) auszutauschen; hier werden problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht, aber keine Informationen ausgetauscht." Hierin ist der fundamentale Unterschied zwischen dem Diskurs und dem platonischen Dialog zu erblicken. Im Verlauf eines Diskurses tauchen keine neuen Inhalte auf, sondern allenfalls neue Argumente, während der platonische Dialog immer auch Philosophie im (entwickelnden) Vollzug war. Der Diskurs ist ein formales Verfahren, das keinen substantiellen "Fluchtpunkt" besitzt, wie der platonische Dialog im logos.
Der Diskurs stellt mithin die Weiterführung des kommunikativen Handelns auf einer anderen, reflexiven Ebene dar. Diskurse sind kein Selbstzweck, sondern sie müssen letztlich der Wiederermöglichung kommunikativen Handelns dienen. Allgemein gesagt haben daher Diskurse das Ziel, "kognitive Äußerungen zu begründen".
zurück2. Voraussetzungen des Diskurses
a) Exkurs: Teilnehmervoraussetzungen aus entwicklungspsychologischer Sicht
Zu Beginn ist bereits gesagt worden, daß der Diskurs hohe Anforderungen an seine Teilnehmer stellt. Der habermassche Diskurs setzt nicht nur die genannte "Virtualisierung der Handlungszwänge", sondern auch die "Virtualisierung von Geltungsansprüchen" voraus. Diese verlangt nun vom Diskursteilnehmer einen "methodischen Zweifel", also das "einstweilige Dahingestelltsein des noch nicht Geprüften", wie die Definition lautet. Habermas nennt dies die "hypothetische Einstellung" gegenüber Sachverhalten und Normen im Diskurs. Mit dieser Einstellung bringt er sich auf Distanz zur Lebenswelt, die für das kommunikative Handeln noch konstitutiv war. Für den Diskursteilnehmer verliert dadurch das Faktische seine Normativität.
Diesen Forderungen, die sich aus der Theorie des Diskurses selbst ergeben, müssen beschreibbare menschliche Fähigkeiten gegenüberstehen, wenn von einem realen Diskurs die Rede sein soll. Die Beschreibung moralischer Fähigkeiten und deren Ausbildung fällt der Entwicklungspsychologie zu. Die Diskursethik, die Habermas vertritt, sucht den interdisziplinären Anschluß. Sie soll bewußt keine autarke Theorie, kein "System" im Sinne Hegels oder Luhmanns darstellen, sondern arbeitsteilig vorgehen in einem komplementären Begründungsverhältnis mit der Entwicklungspsychologie. Die Diskursethik kann sich also zweifach bewähren: Zum einen, indem die Gültigkeit ihrer Forderungen immanent auf transzendentalpragmatischem Wege begründet wird und weiterhin theorieextern durch den Nachweis, daß ihre Grundsätze den normativen End- und Bezugspunkt einer empirisch beobachtbaren Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit bilden. Die Moralität des Diskurses könnte dann für sich in Anspruch nehmen, die größtmögliche Rationalität in Bezug auf ethische Fragen zu verwirklichen.
Es gilt daher, mit Hilfe der Entwicklungspsychologie den empirischen Nachweis zu erbringen, daß in der Reflexionsform des kommunikativen Handelns, im Diskurs, die größtmögliche Handlungsrationalität bestehe. Habermas stützt sich dabei auf Kohlbergs sog. Moralstufentheorie und deren zugehörigen Sozialperspektiven einerseits und Selmans Interaktionsperspektiven andererseits.
Kohlberg unterscheidet sechs Moralstufen, wobei eine bestimmte Art von Handlungskonflikten ("Dilemma") auf der jeweils höheren Stufe argumentativ einsichtiger gelöst werden kann. Den Kognitivismus, der darin zum Ausdruck kommt, haben Diskursethik und Moralstufen neben dem Universalismus und dem Formalismus gemeinsam. Der ersten Moralstufe ordnet Kohlberg die Sozialperspektive des "egocentric point of view" zu, der sechsten die des unparteilichen "moral point of view". Die für die Diskursethik wichtige Frage, wie sich die letzte Sozialperspektive aus den vorhergehenden entwickelt (die "Entwicklungslogik"), kann dieses Modell, so Habermas, nicht zufriedenstellend beantworten.
Die "Entwicklungslogik" läßt sich aber hinreichend mit Selmans Theorie der Interaktionsperspektiven erklären, wenn man zeigt, wie "schrittweise ein System vollständig reversibler Sprecherperspektiven aufgebaut wird". Selman unterscheidet drei Stufen der Perspektivenübernahme, also der Fähigkeit eines Handelnden, von sich selbst zu abstrahieren und in die Rolle der anderen Personen (natürlicher und juristischer) schlüpfen zu können: Erstens die Ich-, zweitens die Du-, drittens die Er-Perspektive. Habermas nennt die Perspektive der zweiten Person Singular die "präkonventionelle", die der dritten Person Singular die "konventionelle" Interaktionsstufe. Letztere geht aus der präkonventionellen Interaktionsstufe hervor, indem eine Beobachterperspektive ("Zuschauerperspektive") die Teilnehmerperspektiven koordiniert. Habermas geht über Selmans Theorie der Perspektivenübernahme hinaus, wenn er zusätzlich noch eine postkonventionelle Stufe der Interaktion einführt. Erst hier sind die Perspektiven vollständig gegenseitig austauschbar (sog. "ideal role taking"). Dies geschieht im Diskurs, bei dem die Teilnehmer sozial entpflichtet sind und nur dem "Zwang des besseren Arguments" verpflichtet sind. Die Reziprozität der Handlungsperspektiven ist die Bedingung der Möglichkeit für den kohlbergschen "moral point of view", die der sechsten Moralstufe zugeordnete Sozialperspektive. Der moralpsychologische Ansatz kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Es galt in erster Linie, einzusehen, wie der Weg zum Diskurs von entwicklungspsychologisch gedeutet werden kann. Dabei ist die vollständige Reversibilität der Handlungsperspektiven als gleichsam anthropologische Voraussetzung für den Diskurs entscheidend. Innerhalb der Diskursethik dient dieser Ansatz der empirischen Rechtfertigung einer normativen Theorie, wie anfangs gesagt wurde.
zurückb) Die Voraussetzung der sog. idealen Sprechsituation
Im Anschluß an diese Überlegungen kann eine erste Antwort auf die Frage gegeben werden, wer an einem Diskurs teilnehmen darf. Bisher ergeben sich zwei Anforderungen an potentielle Diskursteilnehmer: Zum einen müssen sie kommunikativ Handeln können (denn die Möglichkeit dazu will der Diskurs ja wiederherstellen), zum anderen müssen sie, wie eben gesehen, zum "ideal role taking" in der Lage sein.
Betrachtet man die zwei Hauptfälle des Diskurses, nämlich die Verifikation von Propositionen und die Legitimation von Normen, so ergeben sich Anforderungen an die Art der Kommunikation, denen die Teilnehmer genügen müssen. Habermas nennt die die "unwahrscheinliche Kommunikation" in der idealen Sprechsituation. Ideal heißt die Sprechsituation, in der die Kommunikation weder durch zufällige, äußere Einwirkungen noch durch Zwänge behindert werden, die aus der Sprache selbst folgen. Habermas nennt sie unwahrscheinlich deswegen, weil es sich in der Sprechsituation des Diskurses um eine sowohl ideale (im Sinne einer regulativen Idee) als auch konstitutive (als kontrafaktisch zu unterstellende) Art der Kommunikation handelt. Was sind die Bedingungen der idealen Sprechsituation im einzelnen?
"1. Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können.
2. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt.
3. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d.h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Denn nur das reziproke Zusammenstimmen der Spielräume individueller Äußerungen und das komplementäre Einpendeln von Nähe und Distanz in Handlungszusammenhängen bieten die Garantie dafür, daß die Handelnden auch als Diskursteilnehmer sich selbst gegenüber wahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen.
4. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf. Denn nur die vollständige Reziprozität der Verhaltenserwartungen, die Privilegierungen im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs- und Bewertungsnormen ausschließen, bieten die Gewähr dafür, daß die formale Gleichverteilung der Chancen, eine Rede zu eröffnen und fortzusetzen, auch faktisch dazu genutzt werden kann, Realitätszwänge zu suspendieren und in den erfahrungsfreien und handlungsentlasteten Kommunikations-bereich des Diskurses überzutreten."
Nur wenn diese Symmetriebedingungen erfüllt sind, kann der diskursiv erzielte Konsens seinem Anspruch, Wahrheit bzw. Legitimität zu verbürgen, gerecht werden, mithin als "vernünftig" im habermasschen Sinne gelten. Man könnte den Einwand erheben, daß diese idealen Sprechbedingungen nie realisierbar seien. Habermas argumentiert dagegen, wenn er sagt, daß die "erwähnten Beschränkungen [die raumzeitlichen Begrenzungen des Kommunikationsvorgangs und die psychischen Belastungsgrenzen der Diskursteilnehmer] durch institutionelle Vorkehrungen entweder kompensiert oder doch in ihren Auswirkungen auf das deklarierte Ziel einer Gleichverteilung der Chancen, Sprechakte zu verwenden, neutralisiert werden können". Wie schon gesagt, ist der Diskurs beides, ein empirisches Phänomen und ein normativer Idealzustand. Das heißt, die ideale Sprechsituation ist die Bedingung der Möglichkeit eines Diskurses und deshalb normativ. Gleichzeitig sind die oben genannten Anforderungen für die Beteiligten selbstverständlich (zumindest dem Anspruch nach). Sie werden daher immer schon als erfüllt vorausgesetzt, wenn eine intersubjektive Kommunikation den Vernünftigkeitsanspruch erhebt. Daher ist die ideale Sprechsituation auch im empirischen Sinne beobachtbar.
zurück3. Exkurs: Die Konsensustheorie der Wahrheit
Für einen Diskurs müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens subjektive, die von den Teilnehmern zu erfüllen ist, und zwar die Fähigkeit zum "ideal role taking", zweitens eine objektive in Bezug auf strukturelle Merkmale der Rede, die sog. ideale Sprechsituation. Einmal unterstellt, diese notwendigen Bedingungen seien erfüllt, bleibt noch zu klären, warum dann der diskursiv erzielte Konsens die hinreichende Bedingung für den Anspruch auf Wahrheit bzw. Richtigkeit einer Äußerung ist. Anders gefragt: Ist Wahrheit konsensfähig? Eine umfassende Auseinandersetzung mit Habermas Wahrheitstheorie, insbesondere die Abgrenzung zu anderen Wahrheitstheorien muß hier dahingestellt bleiben. Eine umrißhafte Darstellung ist allerdings unerläßlich, denn mit dieser Theorie behauptet Habermas, eine tragfähige Lösung des Begründungsproblems der Ethik und der Wissenschaft überhaupt formuliert zu haben.
Als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen kann Habermas Verständnis von der Sprache gewählt werden. Sprache, so sagt er im Rekurs auf Wittgenstein, ziele auf Verständigung, also auf einen normativen Begriff. Im Anschluß daran kann man sich die Frage stellen, welchem Ausschnitt aus dem Bereich des Seienden die Prädikate "wahr" oder "falsch" zugeschrieben werden. Habermas schränkt den Relevanzbereich der Wahrheit allerdings ein. Von "Wahrheit" kann nach Habermas nur in Bezug auf behauptete Aussagen die Rede sein, die sagen, was der Fall oder was nicht der Fall ist. Es handelt sich also um Äußerungen über (Erfahrungs-)Gegenstände, die, wenn sie berechtigt ist, eine Tatsachenbehauptung darstellt. Damit trennt Habermas den Bereich der Wahrheit von dem der Erfahrung ab: "In Handlungszusammenhängen informieren Behauptungen über Gegenstände der Erfahrung, in Diskursen stehen Aussagen über Tatsachen zur Diskussion." Aus alldem folgt, daß die Wahrheit von Aussagen sich nicht allein semantisch, sondern wesentlich pragmatisch bestimmen läßt.
Um es noch einmal zu sagen: Es geht hier darum zu zeigen, daß die hinreichende Bedingung für die Wahrheit einer Aussage die potentielle Zustimmung aller anderen ist. Für die beiden diskursiven Geltungsansprüche "Richtigkeit" und "Wahrheit" gibt es keine Gewißheit wie beispielsweise für die Verständlichkeit eines Satzes. Dennoch kann man analog von "Wissen" und "Überzeugung" sprechen, die auch eine Art Gewißheit darstellen. Es handelt sich aber nicht um Erfahrungsgewißheit, sondern um die Gewißheit, die behauptete Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage nötigenfalls argumentativ zu verteidigen, also zu begründen. Die Begründungsfähigkeit dieser Geltungsansprüche korrespondiert mit der Zustimmungsfähigkeit des Kommunikationspartners, denn Begründungen sind nur dann sinnvoll, wenn sie kraft des besseren Arguments akzeptiert werden können. Werden sie akzeptiert, besteht zwischen den Beteiligten ein begründeter Konsens. Dieser ist zwar das Wahrheitskritierum, aber der Sinn von Wahrheit erschöpft sich nicht im faktisch erzielten Konsens, sondern der Umstand, "daß jederzeit und überall, wenn wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die diesen als begründeten Konsens ausweisen". Der Sinn von Wahrheit ist nach Habermas also in der potentiellen Zustimmung aller denkbaren Diskursteilnehmer ausgedrückt.
zurückDie Konsensustheorie ist eine pragmatische Wahrheitstheorie, da sie auf den Verständigungsprozeß zwischen vernünftigen Subjekten abstellt. Die Prozeßbedingungen, die für die Eingehung eines Diskurses und damit für die Erzielung eines Konsenes erfüllt sein müssen, wurden oben in Form der idealen Sprechsituation und dem "ideal role taking" geschildert. Nun muß der Diskurs nicht nur als Prozeß, sondern auch als Prozedur und als Produktion von Argumenten gesehen werden. Der Diskurs in prozeduraler Hinsicht bedeutet für Habermas nicht mehr, als seine "arbeitsteilige" Verfaßtheit, indem nämlich die Teilnehmer dialektisch, das heißt durch Rede und Gegenrede, einen strittigen Geltungsanspruch thematisieren und in hypothetischer Einstellung mit Gründen prüfen, ob er zu Recht erhoben wurde.
Der Diskurs ist nun keinesfalls als Maschine zu betrachten, die Wahrheit im Verfahren produziere. Auch für Habermas ist die "Wahrheit" unverfügbar. Die "Materie" des Diskurses sind die Argumente. Wie geht nun die "Herstellung" von Argumenten vonstatten? Dies versucht Habermas in einer "Logik des Diskurses" zu klären. Habermas entwirft keine eigene Argumentationstheorie, sondern greift auf die Arbeiten von Stephen Toulmin, insbesondere auf dessen "Klassiker" The Uses of Argument (1958) zurück. Anders als die formale Logik, die von gültigen Schlüssen zwischen Sätzen ("semantischen Einheiten") handelt, hat es die Logik der Argumentation mit besonderen Sprechhandlungen ("pragmatische Einheiten") zu tun. Die Schlüssigkeit einer Argumentation läßt sich nicht mit herkömmlichen Mitteln empirisch aufweisen, sie beruht nicht auf logischer Deduktion, da sie es, wie gesagt, nicht mit Sätzen ("Aussagen"), sondern mit Äußerungen zu tun hat.
Habermas gibt folgende Definition des Arguments: "Argumente sind diejenigen Mittel, mit deren Hilfe die intersubjektive Anerkennung für den zunächst hypothetisch erhobenen Geltungsanspruch eines Proponenten herbeigeführt und damit Meinung in Wissen transformiert werden kann." Argumente können "unstimmig" (unmöglich), "zwingend ("notwendig") oder auch nur triftig ("möglich") für die Begründung eines Geltungsanspruchs sein. In vielen Fällen wird ein Konsens herbeigeführt nicht durch analytisch geltende (oder nicht geltende), sondern durch triftige, aufgrund intrinsischer Qualitäten einleuchtende Argumente. Wir geben unsere Zustimmung zu Wahrheitsansprüchen, bekunden unsere Übereinstimmung mit Richtigkeitsansprüchen. Als Beispiel für eine (substantielle, da nur auf "triftigen", nicht analytischen Argumenten beruhende) Argumentation nennt Toulmin:
"Petersen ist Schwede
Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist
Die relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden ist kleiner als 2%
Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch."
Im Anschluß an Toulmin lassen sich nun unterscheiden: Die Behauptung "Deshalb ist Petersen mit ziemlicher Sicherheit nicht römisch-katholisch" (C = conclusion), die durch die Ursache "Petersen ist Schwede" (D = data) erklärt wird. Mit der sog. Schlußregel (W = warrant) "Von einem Schweden kann man fast mit Sicherheit annehmen, daß er nicht römisch-katholisch ist" gibt der Sprecher Antwort auf die Frage: "Wie kommst du dahin?" Die Stützung (B = backing) der Schlußregel erfolgt durch die Tatsachenaussage "Die relative Häufigkeit von römisch-katholischen Schweden ist kleiner als 2%".
Habermas nennt ein Argument "trifitig", wenn es möglich ist, das heißt, "wenn zwischen B und W keine deduktive Beziehung besteht und gleichwohl B eine hinreichende Motivation dafür ist". Dies bedarf einer näheren Erläuterung. Habermas These lautet, daß die "konsenserzielende Kraft eines Argumentes mit der Angemessenheit der zu Argumentationszwecken verwendeten Sprache und des entsprechenden begrifflichen Systems zusammenhängt". Zunächst ist festzuhalten, daß Habermas einem strengen begrifflichen Nominalismus folgt. Aber nicht nur die Allgemeinbegriffe einer Sprache existieren unabhängig von einer Wirklichkeit. Auch die Implikationen, die bei der Beschreibung eines Phänomens entfaltet werden, sind im gewählten Sprach- und Begriffssystem enthalten: "Begründungen haben nichts mit der Relation zwischen einzelnen Sätzen und der Realität zu tun, sondern zunächst einmal mit der Kohärenz zwischen Sätzen innerhalb eines Sprachsystems." Ein Argument ist also nicht schon dann "triftig" zu nennen, wenn es in einer stimmigen Beziehung zum Objektbereich steht, sondern dazu muß es primär den Kohärenzbedingungen des gewählten Sprachsystems genügen.
Wie läßt sich, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, der Übergang von "B" zu "W" erklären, der die Argumentation konsensfähig macht? Nach Habermas gelingt der Übergang bei nomologischen Hypothesen (bei Wahrheitsansprüchen) mit Hilfe des Induktionsprinzips, für die Begründung von Handlungsnormen (bei Richtigkeitsansprüchen) über das sog. Brückenprinzip der Universalisierung. Habermas Rechtfertigung des Induktionsprinzips sieht eine reziproke Verschränkung von Sprache und kognitiven Schemata einerseits und Erfahrungen andererseits. Zum einen bilden sich kognitive Schemata aus durch den Kontakt mit der Natur, zum anderen werden die Erfahrungen von einem vorgängigen (Habermas sagt "a priori" geltenden) kognitiven Deutungsschema organisiert. Dazu kommt, daß die kognitiven Schemata nicht allein durch Erfahrung sich ausbilden, sondern auch durch erfahrungsunabhängige Formungsprozesse. Damit ist Induktion nichts anderes als der empirische Nachvollzug einer in der Sprache "gespeicherten" Erfahrung. Jetzt wird auch die in der Ausgangsthese erwähnte Bedeutung der "Angemessenheit" der Begründungssprache an einen bestimmten Objektbereich klar: Eine Äußerung kann um so besser (triftiger) begründet werden, je größer ihre Eigenkomplexität ist. Identifizierte man "Angemessenheit" mit "Wahrheit" würde man diese im Sinne der Korrespondenztheorie deuten, die Habermas ablehnt. Als "wahr" oder "falsch" gelten für Habermas, wie gesagt, nur konstative Äußerungen, die (primär) den Geltungsanspruch der Wahrheit zu Recht erheben. Ob "zu Recht", entscheidet sich im Diskurs. Deshalb ist Wahrheit mit Bezug auf den Diskurs zu verstehen.
Ähnlich verhält es sich mit praktischen Diskursen, in denen die Richtigkeit von Handlungsnormen auf dem Prüfstand stehen. Im Unterschied zu Tugendhat, der von einem praktischen Diskurs lediglich einen "Kompromiß" erwartet, verlangt Habermas für die Geltung von Normen einen "Konsens". Die konsenserzielende Kraft eines Arguments beruht im Falle des praktischen Diskurses auf der Verallgemeinerungsfähigkeit eines Bedürfnisses, Zwecks oder Interesses. Diese Intuition wird mit dem für die Diskursethik fundamentalen Grundsatz des Universalismus "U" ausgedrückt, in dem Kants kategorischer Imperativ von Ferne anklingt: "Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können." Auch praktische Diskurse verlangen eine angemessene Begründungssprache, "die bestimmten Personen und Gruppen unter gegebenen Umständen eine wahrhaftige Interpretation ihrer eigenen partikularen wie auch vor allem der gemeinsamen und konsensfähigen Bedürfnisse erlaubt".
Da die Begründungssprache die Lebenswelt immer schon vorinterpretiert hat, muß im theoretischen wie im praktischen Diskurs die Begründungssprache selbst "lernfähig", das heißt auch revidierbar sein. Habermas beschreibt daher den Ablauf eines Diskurses auf vier verschiedenen Diskursebenen: die der Handlungen, der Begründungen, der substantiellen Sprachkritik und der Selbstreflexion. Der Verlauf des Diskurses müsse eine schrittweise Radikalisierung, d.h. die Selbstreflexion des handelnden Subjekts ermöglichen, so Habermas. Nachfolgend sollen die Ebenen des praktischen Diskurses, wie sie von Habermas vorgesehen sind, angegeben werden. Auf der ersten Stufe der Radikalisierung, dem Eintritt in den Diskurs, wird der Schritt vom im Handeln implizit erhobenen zum im Diskurs explizit erhobenen Geltungsanspruch vollzogen. Der folgende, zweite Schritt des Diskurses besteht in der Rechtfertigung des Gebots bzw. Verbots durch die Angabe mindestens eines Arguments. Im dritten Schritt wird die Angemessenheit des gewählten Sprachsystems geprüft ("metaethischer oder metapolitischer Diskurs"). Mit dem letzten, vierten Schritt soll vom Teilnehmer die Abhängigkeit seiner Bedürfnisse vom Stand seines Wissens und Könnens reflektiert werden. Auf dieser letzten Stufe dieses Bewußtwerdungsprozsses einigen wir uns "auf die Interpretation unserer Bedürfnisse im Lichte der vorhandenen Informationen über Spielräume des Machbaren und des Erreichbaren".
Die oben geschilderte Abfolge sieht Habermas keineswegs als starr an, im Gegenteil muß größten Wert auf die "Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen" gelegt werden. Diese soll wiederum durch die ideale Sprechsituation gewährleistet sein. Dieses "Springen" von einer auf die andere Diskursebene wird solange durchgeführt, bis ein Konsens erzielt werden kann.
zurückSchließlich soll die Kritik kurz zu Worte kommen, auf die Habermas selbst in seinen Schriften immer wieder eingeht, die ihn sogar manchmal zu Modifizierungen seiner Theorie bewegt hat.
Von Kommunitaristen wie zum Beispiel Charles Taylor wird der Diskurs als die behauptete Verwirklichung einer reinen Verfahrensgerechtigkeit angegriffen. Die Kommunitaristen gehen davon aus, daß die "normativen Grundlagen einer Gesellschaft nicht von der Gleichheit der Individualrechte, wie im Liberalismus, sondern von unterschiedlichen Lebensansprüchen schon verfaßter und mit internen Traditionen ausgestatteter Gemeinschaften rekonstruiert werden". So wird Habermas Universalisierungsgrundsatz "Traditionsvergessenheit" vorgeworfen. Auch von anderer Seite, wie zum Beispiel von John Rawls, wird bezweifelt, daß Habermas Theorie ausschließlich formal sein könne.
Habermas Postulat einer idealen Sprechsituation mit ihrem zugleich regulativem und konstitutiven Charakter hat ebenfalls Kritik auf sich gezogen. Der Emanzipationsgehalt einer solchen Begründung der Moral wird in Zweifel gezogen, da "Moralphilosophie, die in dem Sinne affirmativ ist, daß sie ein positiv ausweisbares Prinzip begründen will, in dem die Wirkmächtigkeit der Ethik fundiert sein soll, ist, ob sie will oder nicht, dazu verdammt, idealistisch hinter den erreichten Stand der Kritik zurückzufallen". Ferner wird darauf hingewiesen, daß die "Fiktion des Consensus als des Garanten für Wahrheit" Konsequenzen für den Autonomiebegriff habe. Die Idee des emanzipierten Subjekts stehe in Frage.
zurück
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